Das Massaker an der Familie As-Samouni- 29 Märtyrer
Wie die Familie Samouni aus dem Viertel Zaytoun 29 Angehörige verlor
von Amy Goodman
11.01.2010 — Democracy Now! / ZNet
Ein Jahr nach den israelischen Angriffen auf Gaza erinnern wir
uns an den tödlichen Angriff auf das Viertel Zaytoun. In diesem
Bauernviertel von Gaza-Stadt lebt die Familie Samouni, die bei dem
Angriff 29 Angehörige verlor. Anjali Kamat und Jacquie Soohen besuchten
die Überlebenden der Familie im März 2009.
Anjali Kamat:
Nun zu Gaza, wo an diesem Wochenende mindestens fünf Palästinenser
bei israelischen Angriffen starben. Drei der Toten gehörten angeblich
der Gruppe ‘Islamischer Dschihad an’. Sie starben am Sonntagabend bei
einem israelischen Luftangriff. Mindestens zwei Menschen wurden zuvor
am Samstag von israelischen Soldaten erschossen – nahe der nördlichen
Grenze (von Gaza). Die Angriffe erfolgten, nachdem Premierminister
Netanjahu vor einem möglichen Wiederaufflammen der Raketenangriffe aus
Gaza gewarnt hatte. Er sagte, in der vergangenen Woche seien 20 Raketen
bzw. Mörsergranaten eingeschlagen. Auf israelischer Seite gab es keine
Verletzten.
Amy Goodman:
Ebenfalls an diesem Wochenende teilte Ägypten mit, dass es keine
weiteren humanitären Hilfskonvois über Ägypten nach Gaza durchlassen
werde. Am Freitag wurde der britische Parlamentsabgeordnete George
Galloway, der den Viva-Palestina-Hilfskonvoi geleitet und
schließlich nach Gaza gebracht hatte, aus Ägypten abgeschoben. Ägypten
erklärte ihn zur “persona non grata” und verwies auf Zusammenstößen mit
ägyptischen Sicherheitskräften, zu denen es in Grenznähe gekommen war.
Zudem wird Ägypten für den Beschluss kritisiert, entlang seiner
Grenze zu Gaza eine unterirdische Mauer bauen zu wollen. Dadurch würde
sich die Blockade gegen die 1,4 Millionen Palästinenser von Gaza weiter
verschärfen. Seit mehr als zweieinhalb Jahren leben diese Menschen
unter Belagerung
Anjali Kamat:
Wir erinnern uns nun an den tödlichen Angriff auf ein Viertel in
Gaza, der sich vor einem Jahr ereignete. Die Samouni-Familie lebt in
einem Bauernviertel von Gaza-Stadt. Sie verlor bei jenem Angriff 29
Angehörige. Im März 2009 besuchte ich die überlebenden Mitglieder der
Familie:
Report vom März 2009
Anjali Kamat:
Als wir nach Zaytoun kommen, hören die Obstgärten im Südosten von
Gaza-Stadt abrupt auf. Wir sind unterwegs an jenen Ort, an dem sich
eines der schlimmsten Massaker des israelischen Angriffs auf Gaza vor
einem Jahr abgespielt hat. Vor zwei Monaten (Anfang Januar 2009) wurde
Zaytoun bombardiert. Noch immer wirkt das Bauernstädtchen wie
ausgestorben: Abwasserpfützen, gebrochene Rohre, aufgewühltes
Ackerland, zerstörte Hühnerställe, Häuser, die dem Erdboden
gleichgemacht wurden und Schuttberge überall.
Ein junger Mann namens Fadi Samouni führt uns durch sein Viertel und zeigt, wo die Häuser seiner Verwandten gestanden haben.
Fadi Samouni (Übersetzung):
Das hier war das Haus von Fares As Samouni. Das Haus dahinter
gehörte seinem Sohn, Wael As Samouni. Das war das Haus von Nafez As
Samouni, daneben das von Saleh As Samouni, und daneben die Häuser von
Ziyad As Samouni, Abu Khalil As Samouni, Jihad As Samouni und Hamed As
Samouni. Das hier war das dreistöckige Haus von Asad Samouni und hier
stand das von Azzat – auch er ein Samouni.
Anjali Kamat:
Der israelische Angriff auf Zaytoun traf die Familie Samouni
besonders hart. Sie verlor bei den Luft- und Bodenoperationen (der
Israelis) Anfang Januar 29 Angehörige. 21 von ihnen wurden in einem
Gebäude getötet, in dem sie Schutz gesucht hatten. Tags zuvor hatten
israelische Soldaten ihnen befohlen, sich in dieses Haus zu begeben. 8
weitere Angehörige starben bei separaten Vorkommnissen.
Hamed Samouni ist einer der Überlebenden. Er berichtet, wie alles begann – am Morgen des 4. Januar 2009.
Hamed Samouni (Übersetzung):
Beim erstenmal kamen sie mit Apache-Hubschraubern. Sie kamen zuerst
in dieses Haus hier. Ich hörte den Lärm auf dem Dach und dachte,
vielleicht ist es der Widerstand. Sie kamen durch das Dach, drangen
ein, während alle schliefen. Die Israelis traten die Türen ein – mit
gezogenen Waffen. Sie sagten, alle müssten die Arme hochheben. Sie
durchsuchten alles und verbanden den Leuten die Augen.
Anjali Kamat:
In den darauffolgenden Stunden warfen Flugzeuge Bomben ab. Die
Familien rannten, um Schutz vor den Fliegern und den Bomben über ihren
Köpfen zu suchen. Sie gingen von Haus zu Haus – auf der Suche nach
Sicherheit. Viele der Überlebenden berichten uns, dass die israelischen
Soldaten circa 100 Zivilisten befohle hatten, sich in ein bestimmtes
Haus zu begeben. Es war das Haus von Wael As Samouni. Ihre Berichte
wurden durch mehrere unabhängige Untersuchungen – unter anderem durch
den Goldstone-Report – bestätigt.
Die 38jährige Bäuerin Naheel Abdallah As Samouni erzählt, wie ihre
Familie – nachdem sie aus ihrem eigenen Haus geflohen war -, in Waels
Haus kam.
Naheel Abdallah As Samouni (Übersetzung):
Wir entkamen in das Haus unseres Nachbarn, Abu Salah As Samouni. Es
war aus Beton gebaut. Wenige Sekunden, nachdem wir dort eingetroffen
waren, wurden das Bombardement und die Schießereien heftiger. Die
israelischen Soldaten brachten die Familien von Rashad und Ibrahim in
das gleiche Haus. Wir waren nun rund 60 Personen. Alle weinten und
hatten schreckliche Angst. Nach einigen Sekunden kamen die Israelis zur
Tür herein und sagten, wir müssten hier raus. Sie wiesen die Männer an,
ihre Hemden hochzuziehen und führten Leibesvisitationen durch. Wir
hatten solche Angst; wir rannten barfuß auf die Straße und suchten
Zuflucht im Haus von Wael As Samouni.
Anjali Kamat:
Auch Fadi Samouni ging in das Haus von Wael.
Fadi Samouni (Übersetzung):
Gegen 5 Uhr 30 wurde das Bombardement wieder stärker. Die ganze
Nacht über waren Flugzeuge über unsere Köpfe geflogen. Ich und meine
Familie wollten aus dem Haus fliehen. Als ich gerade die Tür öffnen
wollte, schlugen zwei Bomben in das Haus ein. Wir flohen in das Haus
von Abu Salah – möge Gott ihm gnädig sein. Nach 5 Minuten brach im 3.
Stock des Hauses ein Feuer aus. Drei von uns – Ahmad, Salah und ich –
schafften es hinaus. Wir entkamen und rannten zu Wael As Samounis Haus.
Dort geschah das Massaker.
Anjali Kamat:
Auf dem Weg zu diesem Haus rannte Fadi einer Gruppe Bewaffneter in
die Arme, die er zunächst – aufgrund ihrer Kleidung – für
palästinensische Militante hielt.
Fadi Samouni (Übersetzung):
Wir stießen auf 6 (israelische) Soldaten. Zuerst hielten wir sie für
Widerstandskämpfer und sagten, sie sollten von hier verschwinden. Sie
richteten ihre Gewehre auf uns und befahlen uns näherzukommen. Als wir
uns näherten, befahlen sie uns niederzuknien. Sie durchsuchten uns sehr
gründlich und fragten, wer hier in der Gegend bei der Hamas sei und wer
beim ‘Islamischen Dschihad’. Wir sagten, wir gehörten keiner
Gruppierung an. Alle hier seien Bauern oder Taxifahrer, wie sie ja
sehen könnten.
Anjali Kamat:
Den Rest des Tages drängten sich Dutzende Familienmitglieder im Haus
von Wael As Samouni, das noch im Bau war. Sie hatten sehr wenig Wasser
und Essen. Draußen durchstreiften israelische Panzer die Straßen.
Die Bombardierung begann in aller Frühe am nächsten Morgen. Lamya
Samounis Sohn Hamdi war einer der Ersten, die getötet wurden. Er war
mit einigen anderen nach draußen gegangen, um Feuerholz zu suchen und
um Verwandten zu helfen, die im nahen Obstgarten festsaßen.
Lamya Samouni (Übersetzung):
Einige Leute befanden sich zwischen den Bäumen. Sie wohnten in den
Bäumen, hatten sich ein Zimmer in den Bäumen eingerichtet. Sie sagten:
“Rettet uns. Wir wollen mit euch gehen”. Sie mussten zwei Steine
wegräumen. Mein Sohn Hamdi und ein anderer junger Mann – Mohammad
Ibrahim Al Samouni – begannen, diese Steine wegzuräumen, als die Bombe
fiel. Sie traf Mohammad und Hamdi.
Anjali Kamat:
Dann schlug ein weiteres Geschoss ein. Das Haus von Wael As Samouni
war voller Menschen, fast 100 Zivilisten. Naheel schildert den
Schrecken, als das Haus erneut mit Granaten angegriffen wurde.
Naheel Abdallah As Samouni (Übersetzung):
Binnen Sekunden schlug eine weitere Bombe aus Norden kommend ein.
Wir fielen alle zu Boden und schrien vor Angst. Wir hatten extreme
Angst. Die Männer sagten, wer noch laufen kann, solle sofort hier raus.
Aber bevor ich gehen konnte, wurde mein Mann verwundet. Er sagte: “Mein
Bein ist weg”. Ich sagte: “Was meinst du mit “weg”?” Ich nahm meinen
Schleier ab und versuchte damit, die Blutung zu stillen. Aber er war
sehr schwer verletzt und verlor das Bewusstsein.
Anjali Kamat:
In all dem Chaos nach der Bombardierung – Rauch und Staubwolken -,
flohen die, die noch konnten, aus dem Haus. Sie glaubten, die anderen
im Haus seien alle tot. Aber unter dem Schutt und den Leichen lagen
noch Lebende – auch der Mann von Naheel – Nafez As Samouni – lebte noch.
Nafez As Samouni (Übersetzung):
Ich sagte zu meiner Frau: “Ich bin verletzt. Ich bin verwundet”. Sie
sagte: “Was soll ich tun? Die Leute wollen hier raus”. Es waren über
100 Menschen in dem Haus, es war voller Menschen.
Anjali Kamat:
Nafez stand das Schlimmste noch bevor.
Nafez As Samouni (übersetzt):
Einige gingen und einige…. um mich herum lagen zwischen 19 und 25
Tote. Ich verbrachte die nächsten 4 Tage damit, sie zu betrachten.
Naheel Abdallah As Samouni (Übersetzung):
Mein Mann verbrachte 4 Tage unter Leichen. Wir fingen an zu schreien
und zu weinen. Ich dachte, auch er sei ein Märtyrer geworden. Ich sagte
allen, mein Sohn und mein Mann sind zu Märtyrern geworden.
Nafez As Samouni (Übersetzung):
Ich schwöre, dass die Köpfe der Leichen abgetrennt waren. O mein Gott.
Anjali Kamat:
Nafez As Samoudi ist noch immer traumatisiert durch die Zeit, die
er, zwischen den Leichen seiner Angehörigen gefangen, verbringen
musste. Viele der Toten waren Alte, Frauen und Kleinkinder.
Mittlerweile erhielt der ‘Palästinensische Rote Halbmond’ 145 Notrufe
aus Zaytoun, aber die israelischen Bodentruppen ließen die Ambulanzen
nicht in das Viertel hinein.
Fadi Samouni (Übersetzung):
Wenn sie die Ambulanzen gleich zu Beginn durchgelassen hätten, wäre
es nicht passiert. Aber niemand war in der Lage, (auf unsere Notrufe)
zu reagieren.
Anjali Kamat:
Zweieinhalb Tage später, als endlich Hilfe in das Gebiet gelassen
wurde, kam sie zu Fuß. Mediziner kamen zu Fuß und schafften Nafez und
eine handvoll anderer Überlebender auf Eselskarren ins Krankenhaus.
Immer noch weigerten sich die israelischen Truppen, Ambulanzen bis zum
Haus (von Wael) zu lassen.
21 Tote wurden zurückgelassen. Erst am 18. Januar, als der
Waffenstillstand erklärt wurde, konnten die Überlebenden zurückkehren.
Sie fanden die meisten ihrer Häuser sowie ihre Moschee zerstört vor.
Wael As Samounis Haus stürzte nach dem Bombardement über den Toten
zusammen. Hamed As Samouni erinnert sich noch an den Leichengeruch,
während er versuchte, die Toten unter dem Schutt des Hauses
hervorzuziehen.
Hamed Samouni (Übersetzung):
Ich war als Erster an dem Ort, wo die Bombe gefallen war. Eine
kleine Grube, ein Loch, war zu sehen. Ich stieg hinein und fand sie
alle. Sie lagen seit 17 Tagen unter Trümmern. Als wir versuchten, sie
zu bergen, blieb die Haut ihrer Körper an unseren Händen hängen. Wir
zogen ihre verwesenden Leiber mit unseren Händen heraus. All unsere
Bitten um Ambulanzen für diesen Ort und für diese Aufgabe, die wir an
den Roten Halbmond gerichtet hatten, liefen ins Leere.
Anjali Kamat:
Zwei Monate nach dem Massaker ist der Horror der Überlebenden noch immer frisch.
Naheel Abdallah As Samoudi (Übersetzung):
Wir können nicht vergessen, was passiert ist. Die Mädchen weinen
jeden Tag. Sie erinnern sich an ihren Onkel. Es ist wie ein Traum. Wir
wachten auf, und die Israelis standen über uns. Sie brachten uns von
unseren Häusern weg. Bomben gingen auf uns nieder. Wir können noch
immer nicht glauben, was mit uns geschehen ist.
Hamed Samouni (Übersetzung):
Wenn Sie abends um 22 Uhr an diesen Ort kommen, werden Sie Furcht
empfinden, denn es ist jetzt Geisterland. 29 Menschen sind hier zu
Märtyrern geworden. Wie kann man von uns nur erwarten, hierher zu
kommen, hier zu schlafen, zu essen und zu trinken? Selbst Hunde leben
besser als wir.
Anjali Kamat:
Wir trafen ein 8jähriges Mädchen, das mitansehen musste, wie seine
Mutter bei dem Angriff auf Zaytoun starb. Sie steht neben einem Haufen
aus zerstörten Gegenständen. Sie beschreibt, an was sie sich noch
erinnern kann, als das Haus von Wael mit Granaten beschossen wurde.
8jähriges Mädchen (Übersetzung):
Alles brannte. Es gab keine Türen. Wir konnten nicht schlafen,
hatten keine Matratzen, keine Betten, kein Essen. Alles war schwarz.
Rauch drang von draußen herein und setzte sich an der Wand fest. Alle
sind zu Märtyrern geworden.
Ende des Berichts.
Anjali Kamat:
Heute – mehr als ein Jahr später – stehen in dem Gebiet immer noch keine neuen Häuser.
Die Samounis leben weiter im Elend, in Behelfsunterkünften, die sie
aus den Trümmern ihres früheren Lebens zusammengebastelt haben.
Hamed Samoudi (Übersetzung):
Niemand in der Welt interessiert sich für uns. Die Israelis töten
uns. Am Ende geben sie und 200 Schekel oder 500. Das soll unsere
Entschädigung sein – als ob es nur ums Essen und ums Trinken ginge.
Anjali Kamat:
Im Goldstone-Report steht, dass die 21 Zivilisten, die im Haus von
Wael As Samoudi starben, durch israelisches Feuer getötet wurden, das
bewusst gegen sie gerichtet worden sei. Zudem wirft der Report der
Israelischen Armee (IDF) vor, die Evakuierung der Verletzten
willkürlich verhindert zu haben und verhindert zu haben, dass verletzte
Zivilisten Erste Hilfe erhalten konnten. Außerdem wirft der Bericht der
Armee vor, in Zaytoun bewusst Wohnhäuser zerstört zu haben. Die
offizielle Untersuchung der Israelischen Regierung zu den Todesfällen
steht noch aus. Laut der Überlebenden hat Israel bislang keinen Kontakt
zu ihnen aufgenommen, um sie als Zeugen zu befragen. Ein Jahr nach dem
Massaker wartet die Familie Samoudi noch immer auf Gerechtigkeit.
Das war ein Report für Democracy Now! – von Anjali Kamat und Jacquie Soohen von Big Noise Films.
Amy Goodman:
Vielen Dank für diesen Bericht, Anjali.
Anjali Kamat:
Danke.